Es war einmal 1917…

Gast News Nr. 22

Im Wartezimmer der Praxis finden Sie ein schönes, üppiges, buntes Buch. Das sich freut, wenn Sie sich trauen, es aufzumachen. Geschrieben von Christian Morgenstern. Der trotz eines leidvollen Lebens soviel Wahres, Gutes, Schönes schrieb. Darunter auch eine persönliche Autorenempfehlung von ihm: Carl Spitteler.

Habe dessen gesammelten Essays vor mir liegen, darunter "Revolverhumanität" (1917).

Genau 100 Jahre her.

Und jetzt genießen Sie bitte den schriftlichen Beweis, dass die Erde seit mindestens 100 Jahren stillsteht, dass sich nichts ändert, ändern wird, was menschliches Zusammenleben betrifft.

Es geht um einen Schweizer Professor in Bern, der ein paar deutliche Worte über Armenier geäußert hat. Und über dem nun eine Welt zusammenbricht. Genau wie heute… passen Sie mal auf:

"Die Welt kennt bereits eine Revolverpresse, sie soll, wie es scheint, jetzt noch eine Revolverhumanität erhalten.

Da wird nun schon seit langen Monaten ein unbescholtener, ehrenhafter Universitätsprofessor methodisch gehetzt, ruhelos und schonungslos, aus dem einzigen Grunde, weil er sich erkühnte, über ein asiatisches Volk eine missliebige Meinung zu äußern.

Mildtätiger Terrorismus. Wirklich, wir sind gar nicht so weit mehr davon entfernt. Was ist denn Terrorismus? Das Schweigen aller, wenn einer geopfert wird. Mehr braucht es nicht. Es ist nicht die geringste, tatsächliche Macht vonnöten, um einen Terrorismus zu begründen; es genügt, dass jedermann sich ducke.

Und mir scheint, wir hätten uns schon zu lange geduckt. Ein Hochschullehrer, wegen Armenierlästerung in den Grund und Boden verhetzt, verdächtigt, vermeuchelt! Ich wusste bisher von Gotteslästerung, hingegen Armenierlästerung, dieses Verbrechen ist mir neu. Wenn das so fortgeht, wird es bald ungefährlicher sein, in Russland ein freies Wort über den Zaren, als bei uns ein freies Wort über Kleinasien verlauten zu lassen."

Das ist ja beinahe schon wieder lustig. Heißt: Wir Menschen sind eine sehr stabile Rasse. Bis sich bei uns evolutionär was ändert, sollen ja, wie ich gelernt habe, mindestens 10 000 Jahre vergehen. Scheint zu stimmen. Das Essay oben von 1917 kann man heute, 2017, wörtlich abschreiben. Passt immer noch.